Green Mile in Mitte-Nord 2004

GREEN MILE – Spotlights in Grün

„Nördlich der Torstraße hinter der Stadtmauer hörte Berlin einmal auf – jedenfalls bis 1750.“

Ein Nachspüren der Recherchearbeit, die Anita Staud innerhalb der letzten Monate gemacht hat. In Zeitraffer und ortsgebunden. Text von Constanze Musterer.

Konzept:
Anita Staud begab sich auf historische Erkundungsreise des Gebiets nördlich der Torstraße, dem heutigen Quartier Mitte-Nord. Hier in der Kleinstparzelle Emerson Gallery präsentiert Anita Staud die Ergebnisse ihrer ersten Recherchen und Entdeckungen im Kiez. Die Reise wird als ein „work-in-progress“ von ihr fortgeführt.

Der Titel „GREEN MILE“ meint nicht nur das Vorstadtrandgebiet, den „Grünen Stadtgürtel“, sondern bezieht sich auch auf den gleichnamigen Film von Frank Darabont, der die Kluft zwischen richterlichen Urteil und menschlichem Sein beschreibt. Ein Hinweis, der für die Betrachtung der Ausstellung nicht notwendig ist, aber zu weiterführenden Fragen anregt.

Inspektion des Gebiets:
Als Orientierung dienen die historischen Stadtpläne, auf denen schwarze Linien von der Künstlerin zu entdecken sind. Sie erscheinen wie hinterlassene Spuren der historischen Suche.

Detailbetrachtung:
Es folgen erste Fundstücke – Fahrscheine, Quittungen, Dokumente – Zeichen der Zeit und ihrer Menschen, ebenfalls von linearen Spuren der Künstlerin überzogen, die sich hier wie ein geheimer Schriftcode verschließen.

Metaphorik vorab:
Die übermalte Collage versinnbildlicht als materielle Überlagerung die zeitlich aufeinanderfolgenden, doch nicht linearen, Ebenen der Geschichte.

Berliner Leben:
Die Lupe der Recherche fokussiert die Behausungen der Bewohner: Heutige Grundrisse von Einfamilienhäuser, auf die grüne Wiese gestellt, dominieren durch starken Strich auf diesen Blättern während die zarten Häuserschatten der Erinnerung und Textzeilen (mit Bleistift hinzugefügt) auf die Wohnverhältnisse um 1820 verweisen.

Geschichtswissen:
Bevölkerungsexplosion, Mietskasernen, Enge, Armut… Wovon uns Anita Stauds reduzierte Blätter eine vage Vorstellung vermitteln, beschrieb Bettina von Arnim konkret 1843 als katastrophale Lebensumstände und setzte sich damit gegen die Armut in dieser Gegend ein.

Hommage:
So ist das Gemälde „greenflash“ auch Bettina von Arnim gewidmet und zeigt verschiedene Portraits der adligen, weiblichen, kritischen und sich ohne Klassenbewußtsein engagierenden Persönlichkeit. Um sie zu entdecken, muss sich nun jeder selbst auf die Suche begeben!

Spurensuche Stadtbild:
Die Unmittelbarkeit von Historie und Gegenwart und die Frage nach der Zukunft verdichtet sich in den Digitalfotos, die den Jetzt-Zustand des Quartiers Mitte-Nord wiedergeben, doch nicht sofort wieder zu erkennen geben: Mitte-Nord in grün getaucht wird zum Cyberspace!

Spurensuche Eros und Tanatos:
Die Serie „Des Teufels Lustgarten“ spielt nicht auf die Sittengesetze des 18. Jahrhunderts an, sondern rekrutiert aus der historischen Nutzung des Ortes: Gartenstraße, Ecke Ackerstraße gab es früher den Gartenplatz, der Ende des 18. Jahrhunderts zum Galgenplatz wurde. Um den Platz mit den errichteten Galgen herum, siedelte sich ein Amüsierviertel an. Der Volksmund taufte das Gebiet entsprechend „Des Teufels Lustgarten“. Heute befindet sich der Friedhof an diesem Ort.
Auch das eine nicht zufällige historische Entwicklung…?

Künstlerische Intuition:
Spuren, Gesten, Skriptuale Malerei auf Viktorias Haupt. Das Pendant zu den Arbeiten mit dem realen Ort und den noch real existierenden Fundstücken sind im hinteren Raum die zum Ort von der Künstlerin assoziierten Bilder, durchtränkt mit Anspielungen und (auch) bekannten „Heldinnen“…

Schlußfolgerung:
Das altbekannte Problem von Geschichtsschreibung ist das Bemühen um Objektivität, die es – wie wir heute als aufgeklärte Menschen wissen – nicht gibt. Und so ist es geradezu befreiend, Anita Stauds künstlerische Auseinandersetzung mit Historie zu betrachten, die nicht pädagogisch, nicht dogmatisch und nicht schwarz-weiss daherkommt. Sie läßt die Grautöne stehen und wir dürfen als mündige Bürger sehen und denken und das sogar mit Fantasie.
Eine Ausstellung die anregt, weiter zu erinnern, weiter zu entdecken und insbesondere kreativ weiter zu denken.

Constanze Musterer